Aus alten Zeiten

Aus alten Zeiten

Marie Wagenknecht (1885-1970)

8. Mai 1945 – dieses Datum werde ich bis zu meinem Lebensende als Gedenktag begehen! Als Feiertag kann ich dieses Datum nicht bezeichnen, weil ihm sechs Jahre mit schrecklichem Krieg, furchtbarem Leid, übler Unterdrückung, sinnloser Zerstörung und unbeschreiblicher Verbrechen vorangegangen sind.

Was für eine Erleichterung, als die vollständige Kapitulation der deutschen Wehrmacht endlich schwarz auf weiß vorlag und sowohl der Krieg in Europa beendet als auch Deutschland von den Nationalsozialisten befreit ist!

Mein bisheriges Leben ist von starken politischen und sozialen Umbrüchen geprägt. Ich verbrachte eine unbeschwerte Kindheit in Sachsenhagen am Steinhuder Meer. Geprägt durch meine streng protestantische Erziehung und tief beeindruckt durch die viele Not, die ich in der Hildesheimer Nordstadt miterleb(t)e, muss ich einfach aktiv werden und mich engagieren für die sozial benachteiligten Menschen und für die Frauen, die aus vielen Bereichen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen wurden und immer noch werden. Seit 1911 bin ich nun ehrenamtlich in der Politik und der AWO tätig. Sie müssen sich vergegenwärtigen, welche politischen und sozialen Umbrüche ich miterlebt habe: zunächst die Kaiserzeit, den I. Weltkrieg, dann die Weimarer Republik, das Erstarken der Nationalsozialisten, den II. Weltkrieg und nun ist der Wiederaufbau unserer Stadt zu bewältigen.

Auch wenn Deutschland inzwischen eine Republik ist, die Gesellschaft der Stadt Hildesheim ist konservativ geblieben, autoritär-obrigkeitsstaatlich geprägt und mit wenig Raum für engagierte Frauen. Seit 1919 engagierte ich mich als Bürgervorsteherin. Bereits am 3. April 1933 kam es in der konstituierenden Sitzung des Bürgervorsteher-Kollegiums  zu massiven Konflikten mit den sozialdemokratischen Mitgliedern. Als mein Kollege Weise, SPD, das Rathaus betreten wollte, wurde er von SA-Leuten körperlich angegriffen.  Bürgermeister Heinrich Schmidt, NSDAP, ließ die Wortmeldungen der SPD-Bürgervorsteher nicht zu – angeblich handelte es sich um Agitationsanträge. Am 10. April wurden wir Sozialdemokraten mit sofortiger Wirkung „beurlaubt“, da „eine Zusammenarbeit zum Wohle der Hildesheimer Bevölkerung nicht möglich sei.“ Am 19. April waren wir noch vier sozialdemokratische Fraktionsmitglieder, die zur Sitzung erscheinen.  Wir enthielten uns als einzige der Stimme bei der Abstimmung über das nationalsozialistische Hildesheimer Ortsstatut. Tags darauf wurde ich von der Gestapo verhaftet und eine Woche dort behalten für endlose Verhöre. Nach meiner Entlassung zogen mein Mann Paul und ich uns in den Kreis unserer politischen Freunde zurück, wo wir intensiv diskutierten und uns umfassend informierten.

Aber genug davon, diese Zeit liegt nun hinter uns. Ich will weiterhin meinen Beitrag leisten, die Welt zum Besseren zu verändern! Wie oft sitze ich in Gremien, in denen ich die einzige Frau bin und mir zunächst einmal Gehör und Respekt verschaffen muss – nach allem, was wir doch gemeinsam durchgemacht haben! Aber ich arbeite unverdrossen weiter, lasse mich in den neuen Rat der Stadt wählen und vertrete die Belange der Nordstadt, der Frauen und aller sozial Benachteiligten mit allem Nachdruck. Irgendwann müssen wir uns doch mal vorwärts bewegen  …

Gott zum Gruße, ihr guten Leute!

Es ist doch zu ärgerlich – kaum jemand kennt mich noch! Und dabei schmücke ich seit 1528 das Wappen und alle offiziellen Schriftstücke unserer Stadt Hildesheim. Schaut genau hin, wenn ihr Post von der Stadt bekommt – da bin ich immer drauf!

Aber meine Geschichte kennt ihr doch wenigstens? Als ich noch jung war, verlor ich meinen Bräutigam durch einen Blitzschlag. Vor Kummer rannte ich tief in den Wald und verirrte mich dort. Die Glocke des Kehrwiederturms hat mich gerettet, denn ich hörte sie rufen: „Kehre wieder! Kehre wieder! Kehre wieder!“ Diesem Klang bin ich gefolgt und fand so aus dem Dickicht heraus.

Der Festungsturm mit der rettenden Glocke heißt bis auf den heutigen Tag  „Kehrwie­derturm!“ Die Glocke wurde geweiht und in den St. Lamberti-Kirchturm gehängt. Damit nun die Glocke künftig auch andern verirrten Wanderern den Weg weisen könne, so machte ich es fest, dass sie in den kurzen Tagen von Michaelis bis Ostern eine ganze Stunde und zwar abends von 8 bis 9 Uhr geläutet wird. Dem Läuter stiftete ich jährlich einen Schuh und einen Gulden für diese Aufgabe.

Ihr wundert euch heute sicher, warum nur 1 Schuh?  Nun , wir unterschieden nicht rechte oder linke Schuhe wie ihr heute. Es gab Einheitsleisten. Unsere Füße  mussten die Schuhe passend einlaufen. 

Als Anfang des 19. Jahrhunderts  von der westphälischen Regierung solche Stiftungen nicht mehr geachtet wurden, da hörte auch das Läuten mit meiner Glocke auf, aber das konnte ich nicht zulassen: wenn der damalige Läuter auf den Turm ging, bekam er rechts und links von unsichtbaren Händen Ohrfeigen und dies dauerte so lange, bis die alte Bestimmung wieder hergestellt wurde.

Inzwischen habt ihr andere Möglichkeiten, die Uhrzeit zu bestimmen und euch zu orientieren. Deswegen gibt es die Stiftung nicht mehr und ich bin auch ein wenig in Vergessenheit geraten.

Aber ihr merkt schon, es ist ziemlich spannend, die Geschicke der Menschen über mehrere Jahrhunderte verfolgen zu können.

Wenn ihr das nächste Mal zum Altstädter Markt kommt, schaut euch euer Rathaus einmal genauer an. Dort findet ihr mich gleich mehrfach …

Barbelin Diederich (1572)

Seid gegrüßt, ihr Leut‘.  Habt ihr vorhin in der Neustadt auch den Brautzug gesehen, der dem Bäcker Schwenkler die neue Frau ins Haus gebracht hat? Armselig, ganz armselig!  Aber die Leute wollen ja wissen, wer da demnächst in die Nachbarschaft aufgenommen wird. Wenn ich da an meine Hochzeit denke. Na ja, um ehrlich zu sein, meine Truhe war zwar erheblich schöner und besser gefüllt, aber es gab kaum Leute, die wissen wollten, wen sich der Sohn des Hildesheimer Scharfrichters da als Braut genommen hat. Nur meinen Vater, den Braunschweiger Scharfrichter Christoph Gördens, den haben sie begafft, als ob’s der Leibhaftige selber wäre. 

Als Mädchen in einer Scharfrichterfamilie aufzuwachsen, sag ich euch, das ist nicht leicht. Natürlich musste ich bei meiner Mutter alles lernen, was ein Weib wissen muss, also Spinnen, Weben, Nähen, Kochen und vieles mehr. Manch Braunschweiger Bursch hatte ein Auge auf mich geworfen, aber auf Tändeleien durfte ich mich nicht einlassen, schließlich wäre eine Hochzeit mit einer wie mir nie erlaubt worden. Und meine Eltern haben mir immer wieder eingebläut, meines Vaters Handschrift war oft schmerzhaft klar, dass sie mir den Richtigen schon aussuchen würden. Aber dann hat mein großer Bruder seine Braut heimgeführt und auch für mich wurde es höchste Zeit, in die Vormundschaft eines Ehemannes gegeben zu werden. Immerhin war ich da schon 16 Jahre alt.

Ja, und wieso ich jetzt seit über 20 Jahren in Hildesheim verheiratet bin, das ist eine lange und schöne Geschichte.

Wollt ihr sie hören?

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